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„Wie es zu mir kommen konnte.“

Der Schrift- und Selbstdarsteller Helmut Krausser

von Jan Oberländer

 

(Dieser Text von Jan Oberländer wurde im Jahr 2004 erstveröffentlicht unter:

https://www.lit04.de/archiv/lit03/index_literatur_lifestyle.html?thema_1_krausser.html~main

Besuchen Sie gerne auch die Homepage des "Magazins für Literaturkritik und literarische Öffentlichkeit".)

 

Drei Links. Mehr Verknüpfungen gibt es nicht auf www.ultrachronos.de, dem digitalen und vernetzten Appetizer für Helmut Kraussers neuesten Roman „UC“. Drei Links, die man anklicken kann, um zu verstehen, wie Kraussers Literatur funktioniert.

 

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Die ersten acht Kapitel von „UC“ kann man online lesen. Der UC, der Ultrachronos, ist die Wahrnehmungswelt, die in unmittelbarer Nähe des Todes wie ein Film vor dem inneren Auge abläuft.

 

In Kraussers Roman führt dieser Film den Leser durch die Geschichte Arndt Hermannsteins. Hermannstein ist ein erfolgreicher, arroganter, dekadenter Dirigent, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Die Leiche einer ehemaligen Klassenkameradin ist gefunden worden, seit über zwanzig Jahren verscharrt, und Hermannstein ist sich nicht sicher, ob er mit dem Tod der Frau tatsächlich nichts zu tun hat.

 

Auf einer Irrfahrt durch das Verdrängte stößt er auf vergangene Lieben und vergessene Lügen. Er begegnet dem undurchsichtigen Schriftsteller und Populärphilosophen Samuel Kurthes, zu dem er eine unerklärliche Verbindung spürt, und der ihm das unbestimmte Gefühl gibt, nur eine Figur in einem Buch zu sein. Dieses Buch schreibt Kurthes am Ende des Romans; Hermannstein stürzt tödlich aus dem Fenster.

 

Soweit die Oberfläche für alle.

 

Kraussers Romane sind unterhaltsam zu lesen, der Erzählstil ist mal flott, mal großspurig, immer originell. Mit Absicht: „Ich will vor allem, dass sich jedes meiner Bücher von allen vorherigen völlig unterscheidet. ‚Ein typischer Krausser’ - Ein Diktum, das ich hasse.“ (Mai 1992).

 

Bei aller Originalität - Kraussers Bücher umkreisen stets die gleichen großen Themen: Liebe und Tod, Mythos und Wahnsinn, Kunst und Ekstase. Dabei wird die Latte so hoch gelegt, dass der Leser notfalls drunter durchschlüpfen kann.

 

Zur Krausser-Lektüre schadet es nicht, Weinkenner zu sein, Opernfreak, Philosoph oder Literaturwissenschaftler – man wird viel Freude daran finden, die Anspielungen zu verstehen. Jedoch sind Kraussers Bücher auch für unbewanderte Leser zugänglich. Sex, Gewalt, Alkohol und eine oft sehr direkte Sprache erden die Geschichten. Ein Trick. „Man baut seinen Text in vielen Schichten auf“, sagt der Autor, „so dass ganz oben eine Schicht erscheint, die selbst ein Depp zu verstehen glaubt. So kann man vor sich selbst die Würde bewahren, ohne hungern zu müssen“.

 

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Man muss das Passwort zum Mitgliederbereich kennen, um auf der „UC“-Homepage einen langen Vortrag von Samuel Kurthes über das Wesen des menschlichen Daseins in einer n-dimensionalen Zeit lesen zu können. Im Roman sind das fast 40 trockene Seiten. Hier legt das Buch aus der Hand, wer leichte Lektüre sucht. Nur wer an der Steigerung von Komplexität interessiert ist und wer Trockenes vertragen kann, erfährt: Bereits in der zehnten Dimension sind alle Kausalzusammenhänge aufgelöst. Alles findet gleichzeitig statt, jeder Zeitpunkt ist originär. Aber alle Möglichkeiten eines Moments sind immer, zumindest als „Schatten“, existent.

 

Es sind eben diese schattenhaften Möglichkeiten des Moments, die Hermannstein in „UC“ quälen. Was geschah in jener Nacht vor zwanzig Jahren? Ist er ein Mörder? In altdeutschem Schriftbild ist ein Märchen von Hans Christian Andersen in den Text gelegt, das sich als Parabel für Arndt Hermannsteins eigenes Schicksal lesen lässt. Ein junger Schriftsteller entlässt seinen Schatten in die Welt. Nach Jahren kehrt der Schatten, menschenähnlich geworden, zu seinem Herrn zurück, lockt ihn in die Welt hinaus, und tauscht allmählich mit ihm die Rolle. Er nutzt das Wissen seines Herrn aus, um die Hand einer Prinzessin zu gewinnen. Schließlich bringt er ihn um.

 

Der Schatten ist gleichsam Hermannsteins Gedanke an seine Schuld, die sich durch die ständige Grübelei zur Möglichkeit auswächst, und die dem Dirigenten schließlich, ohne bewiesen oder widerlegt zu sein, zum Verhängnis wird.

 

Wie hier Wahn und Wirklichkeit in n Dimensionen durcheinander gehen, so ist auch Kraussers Spiel mit verschiedenen Erzählebenen auf Verwirrung angelegt. Die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers Hermannstein werden immer wieder unterbrochen, etwa von Kommentaren in kleinerem Schriftsatz, die Alternativen reflektieren: „das krankenhaus in rom, auf der tiberinsel, wäre natürlich sehr viel spektakulärer“. Auch brechen Schlüsselpassagen zuweilen abrupt ab: „geheimnisse sind weder groß noch klein, sie sind geheim“.

 

Auf einer anderen Ebene gibt es kursiv gesetzte Anmerkungen, die als eine Art Herausgeberkommentar auf einen zensierenden Eingriff hinweisen: „Passage gestrichen“, „Längere Passage geschwärzt“. Und nicht zuletzt wechselt zuweilen die Erzählperspektive: Hermannsteins Freundin Anne erzählt, ein Interview mit einer alten Klassenkameradin und anonyme innere Monologe werden eingefügt. Liest man eigentlich in Kurthes’ Manuskript, das auf Aufzeichnungen Hermannsteins basiert, aber auch andere Quellen anzapft, um die Geschichte zu erzählen?

 

In einem Interview, das Samuel Kurthes, zeitversetzt nach Arndts Tod, einer Studentin gibt, nennt er „Ultrachronos“ sein neues Buchprojekt. Was Kurthes in diesem Interview unterstellt wird, ließe sich ebenso auf den Autor Helmut Krausser übertragen: „Sie entwerfen ja im Roman auch ein sehr … ironisches, manchmal schonungsloses Selbstporträt von sich“. In „UC“ scheint sich Krausser aufzuteilen zwischen Hermannstein und Kurthes. Welcher von beiden ihm näher ist? „Obwohl Kurthes parodistische Züge von mir trägt und ich an Arndt die Trägheit nicht ausstehen kann, ist er mir lieber. Aber näher? Weiß nicht. Bin wohl genau in der Mitte zwischen beiden“.

 

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Auf einer Meta-Ebene gibt sich Helmut Krausser in „UC“ schließlich selbst zu erkennen. Er erscheint Arndt Hermannstein in einer erleuchteten Sekunde als „Lichtgestalt“, als Schöpfer aller Schöpfung, der „weiß, wie alles wird, wie alles war, und warum“. Der Dirigent darf ihn „Helmut“ nennen: Fiktion und Wirklichkeit verschmelzen.

 

Die Ironie im Auftritt des Autors in seinem Buch als Autor seines Buches ist offensichtlich. Gleichzeitig verdeutlicht dieser klassisch romantische Erzähltrick die Meisterschaft, mit der Krausser sich durch die Ebenen spielt, Erzählstränge verwebt und wieder entknotet und echte und falsche Fährten legt. Nicht nur im Buch: der dritte Link auf der Homepage führt auf dieselbe Seite wie der zweite. Krausser als Trickser, als Versteckspieler. An einer Stelle lässt er Kurthes sagen: „Indem man ein bisschen was von der Wahrheit dem Leser als Brocken hinwirft, lenkt man von der ganzen Wahrheit ab“. Mit seinem neuesten Streich ist Krausser zufrieden: „UC ist mein bestes Buch“.

 

So setzt er sich in Szene: Helmut Krausser als selbstbewusster Künstler und Handwerker: „wer mich einen Kommerzschriftsteller nennt“, verkündet er (Link), „muss einen an der Waffel haben. Elitäreres als meine Bücher gibt es nicht. Zweitens: Ich hätte ja alle Möglichkeiten. Einen Pilcher-Roman schreiben und Millionen damit zu verdienen, müsste für jeden Autor gediegenen Handwerks und stilistischen Assimilationstalents eine Sache von zwei Wochen sein. Aber ich mache so was nicht“.

 

„UC“ wurde dennoch von der Kritik sehr positiv aufgenommen, laut Krausser gab es „fünf Verrisse von etwa 80 Rezensionen. Von den fünfen leider drei in großen Blättern. Früher war das mal für den Verkauf wichtig, jetzt ist es gar nicht mehr wichtig“. Und er wiegelt ab: „UC verkauft wenig. So erfolgreich bin ich nun wirklich nicht“. Doch kann sich Krausser nicht verkneifen: „Ich weiß selber, was ich hätte streichen müssen, um sehr viel mehr zu verkaufen“. Daran will er keinen Zweifel lassen: dass er über den Buchmarkt und seine Position darin im Bilde ist. Er steht drüber, er schaut sich und den anderen von oben zu und lächelt mal zynisch, mal milde. Das ist seine Lieblingsrolle: ein unverstandener, genialer „Primus inter Parias“.

 

„Wenn es mich nicht gäbe, würde ich zum Kulturpessimisten“ schreibt er im Dezember 1999 in sein „Tagebuch“. Als Chronist des eigenen Künstlerlebens arbeitet der Schrift- und Selbstdarsteller Krausser am eigenen Mythos. Seit Mai 1992 dokumentiert er jährlich je einen Monat seines Lebens. Ein ehrgeiziges, gewissenhaft betriebenes Projekt, auf 12 Jahre angelegt, „auf dass ich einmal, mit dann 40 Jahren, nachprüfen kann, wie es zu mir kommen konnte“.

 

Die Tagebücher, laut Klappentext eine „Mischung aus Werkstattbericht, provozierenden Äußerungen zum Kulturbetrieb und sehr privaten Notizen“, geben den Blick auf einen Helmut Krausser frei, der den Wein liebt, die Musik und die Nacht, der lästert und lobt, liest – und schreibt. Der Fortschritt der jeweils aktuellen Buchprojekte wird ebenso dokumentiert („17 Seiten Thanatos“) wie die Rezeption, das Verständnis und die Missdeutungen seiner bereits veröffentlichten Werke.

 

So geben die Tagebücher dem interessierten Leser Passwörter zu neuen Insiderbereichen an die Hand. Denn „tieferes Verständnis entsteht sicher intertextuell, indem man die Anspielungen versteht“, sagt Krausser. In Bezug auf seinen Roman bemerkt er jedoch: „Manche sehr gebildeten Kritiker verstehen UC ja nicht einmal als hochironisches Buch. Viele wundern sich auf Lesungen, wie ironisch ich meine Texte lese“.

 

Das Unverständnis der Massen ist der Meister gewohnt. „Ich hätte euch ganz viel zu sagen, aber ihr seid noch nicht soweit. Ich sage es euch, aber ihr hört am Wesentlichen vorbei. Und das muss auch so sein. Was mir z. B. wehtut: Wenn Leute um die 20 begeistert die Hagen-Trinker-Trilogie lesen, dann sofort Melodien und Thanatos nachschieben und damit entweder nichts anfangen können, oder lauter Unsinn. (Ja, ich weiß, man kann sich seine Leser nicht usw.)“

 

So einsam ist es auf dem Olymp, auch wenn man einen Briefkasten hat. Hoch droben notiert Krausser: „Schöne Leserbriefe. Sie kommen, überflogen, auf eine abzuarbeitende Halde unerledigten Papierkrams. Früher hätt ich so was fünf-sechsmal gelesen“.

 

Trotz oder vielleicht gerade wegen solch wenig publikumsfreundlicher Äußerungen hat Krausser Fans. Sogar viele. Auch wenn man ihn noch nicht auf der Straße erkennt. „Jünger gibt es auch wenig“, sagt er, „ich lasse das nicht zu. Schwärmer, ja. Wohl gibt es auch Spinner, sogar seit neuester Zeit Morddrohungen. Aber das gehört wohl zu einem gewissen Grad an Bekanntheit“. Dennoch bleibt Helmut Krausser ein Geheimtipp. Wirklich persönlich wird er niemals, seine Kunst ist ihm Schutzschild und Maske. Was Klappentexte und Infokästen an Basisdaten zu seiner Person bieten, klingt vor allem werbewirksam.

 

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Am 11. Juli 1964 in Esslingen am Neckar geboren, wächst Krausser in München-Schwabing und Germering auf. Nach dem Abitur arbeitet er in den unterschiedlichsten Jobs, als Nachtwächter, als Zeitungswerber in einer Drückerkolonne, als Opernkomparse, als Rundfunksprecher und als Journalist. Mitte der Achtziger verbringt er, „(halb-)freiwillig“ obdachlos, ein Jahr in der Münchener Berberszene. Nebenbei studiert er provinzialrömische Archäologie, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in München, doch verlässt er die Uni 1989 ohne Abschluss.

 

Vieles aus dieser Zeit findet sich in der „Hagen-Trinker-Trilogie“ wieder, deren gleichnamiger Protagonist sich an den Außenrändern der dekadenten Welt der Reichen und Dummen bewegt, immer auf der Jagd nach Liebe und Geld, glücksspielend, weingetränkt. Ein Poet unter Pennern, der, wie im Schlussteil der Trilogie („Fette Welt“, 1992) klar wird, sein schizoides Ich mit dem weltverachtenden Kindermörder Herodes teilt. So spaltet sich hier - neben allen anderen narrativen Auflösungen - auch die Persönlichkeit. Über „Thanatos“ (1996) bis hin zur „Schmerznovelle“ (2001) wird das für Krausser eins der großen Themen bleiben.

 

Wie Hagen Trinker ist auch sein Schöpfer ein Zocker, ob Backgammon oder Automaten-Tetris, ob im Casino oder in der Flipperhalle. Er spielt im Schachclub, wird angeblich zeitweilig in der Schachweltrangliste geführt, hat einen Schüler, veröffentlicht Artikel in Schachzeitschriften.

 

Über seine Faszination am Spielen sagt er 1998: „Wenn ich rückblickend antworten soll, dann ging es mir ums Verlieren mehr als ums Gewinnen. Es hatte etwas masochistisch Wunderbares, nach einer langen, wechselvollen Nacht mit Nichts als dem letzten Hemd auf der Straße zu stehen und 20 zu sein. […] Etwas gewonnen zu haben und zufrieden nach Hause zu gehen, das wäre ein Paradox gewesen, denn schließlich hatte man dann ja noch Geld, um zu spielen“. Heute bezeichnet er sich als „entwöhnt“.

 

Doch die Bruchstellen bleiben. Helmut Krauser ist in vielen Welten gleichzeitig zuhause: Die Parkbank und der Schachclub, die Oper und die Band „Genie&Handwerk“, für die er zeitweilig Texte schrieb und sang, seltsame Musik, von der Band selbst als „Bruckner-Punk“ bezeichnet (Hörproben unter www.genieundhandwerk.de).

 

Krausser erscheint nicht gespalten wie viele seiner Romanfiguren. Viel eher ist er aufgespannt zwischen extremen Polen. Ein Widerspruch in sich. Vielleicht auch eine Auflösung in sich. Er bewegt sich in allen denkbaren Genres. Als Dramatiker ist er erfolgreich („Lederfresse“ gehört zu den am häufigsten gespielten deutschen Stücken), er hat Opernlibretti geschrieben, ein Kinderbuch, einen Gedichtband und Tagebücher. Zwei seiner Romane wurden verfilmt („Fette Welt“ 1992 und „Der große Bagarozy“ 1999). Was dabei aber auf die Leinwand kam, stellt Krausser, wen wundert es, nicht zufrieden: „Daß die beiden Filme so schlecht wurden, war nicht zu erwarten, aber so schaden sie dem Buch wenigstens nicht“. Dennoch schreibt gegenwärtig jemand “Thanatos“ in ein Drehbuch um. Auch eine Verfilmung der „Schmerznovelle“ liegt, Krausser zufolge, durchaus im Bereich des Möglichen.

 

Das gibt Geld. Für „Genussgifte aller Art“, zur „Reproduktion der Ekstase“. Und natürlich für die eher unkommerziellen, künstlerisch ambitionierten Projekte. „Im September kommt der zweite Gedichtband, das ist in der Tat mein mir wichtigstes Buch. Verkauft zwar nichts, egal. Stücke habe ich noch ein paar vor, einige Erzählungen. das nächste Buch ist ein Buch über die wilden Hunde von Pompeji. Für Kinder gedacht, aber für Kinder zu wenig schwarz-weiß und viel zu grausam. Moers macht die Illustrationen. Darauf bin ich sehr sehr stolz“.

 

Die boshafte, schlaue, obszöne Phantasie Kraussers gepaart mit den boshaften, schlauen, obszönen Zeichnungen von Walter Moers - der Gedanke an sich selbst im Spiegel des anderen, das rührt den einsamen Olympier dann doch. Davon später mehr. Wenn man das Passwort hat.

 

Helmut Krausser: UC. Rowohlt Verlag Reinbek 2003. 320 Seiten, geb., 22,90 €

 

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zuletzt aktualisiert im Oktober 2024